Fachartikel, 24.09.2007
Perspektive Mittelstand
Bildung und Beruf
Schwere Zeiten für Gewerkschaften
Die großen branchenspezifischen Gewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) stehen derzeit vor mehr als einer Herausforderung. Zum einen hält der Schwund an gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern unvermindert an, zum anderen graben ihnen berufsständische Organisationen wie beispielsweise die Bahngewerkschaft Transnet und ver.di immer mehr das Wasser ab. Setzt sich diese Entwicklung weiter fort, dürften die Arbeitsbeziehungen in Deutschland deutlich komplizierter werden.
Bestimmten früher in erster Linie Industriearbeiter die Arbeitswelt in Deutschland, sind es heute gut ausgebildete Dienstleister wie beispielsweise Finanzexperten, Juristen und IT-Fachkräfte. Weil viele dieser Kopfarbeiter es gewohnt sind, für ihre Interessen eigenständig einzustehen, halten sie sich von den kollektiven Vertretungsorganen zumeist fern. Am 31. Dezember 2006 zählten die acht DGB-Organisationen zusammen nur noch 6 Millionen Mitglieder:

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::
Allein im vergangenen Jahr traten über 190.000 Mitglieder aus Gewerkschaften im DGB aus. Die Manpower der Arbeitnehmervertretungen verringerte sich damit binnen Jahresfrist um weitere 2,8 Prozent.
::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::

Besonders besorgniserregend aus Sicht der Gewerkschaften ist der Umstand, dass es keineswegs nur Rentner und Arbeitslose sind, die ihren Mitgliedsausweis abgeben. Der Verlust geht vielmehr, wie Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW) zeigen, an die Substanz – nämlich den Rückhalt unter den Arbeitnehmern.

Die Gewerkschaften selbst veröffentlichen stets nur die Mitgliederzahl insgesamt, unterscheiden dabei aber nicht nach dem Status ihrer Anhängerschaft. Wie hoch der gewerkschaftliche Organisationsgrad der abhängig Beschäftigten, also der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an den Arbeitnehmern, tatsächlich ist, lässt sich somit auf Basis der Gewerkschaftsangaben lediglich grob abschätzen. Weil dies aber gerade für die Tarifauseinandersetzungen relevant ist, hat das IW Köln einen anderen Weg beschritten, um Klarheit zu gewinnen.

Wie viele abhängig Beschäftigte hierzulande einer Gewerkschaft angehören, lässt sich auch aus den für Deutschland repräsentativen Ergebnissen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) ermitteln. Für ALLBUS werden im Zweijahresrhythmus rund 3.000 Bundesbürger befragt, darunter 1.400 Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmervertreter sprechen demnach für einen immer kleineren Teil der
erwerbstätigen Bevölkerung:

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::
Waren im Jahr 2004 bundesweit 20,5 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, galt dies 2006 gerade noch für 17,5 Prozent.
::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::

Was die gesamtdeutschen Daten verbergen, ist ein kleiner Gewerkschaftsaufschwung im Osten der Republik: Dort ist der Organisationsgrad der abhängig Beschäftigten zuletzt wieder gestiegen – von knapp 18 Prozent im Jahr 2004 auf gut 19 Prozent 2006. In Westdeutschland lag dieser Wert zuletzt mit 17 Prozent sogar darunter. Schon einmal, direkt nach der Wiedervereinigung, besaßen zwischen Rostock und Chemnitz im Verhältnis mehr Arbeiter einen Gewerkschaftsausweis als im Westen. Doch in der Folgezeit bis zum Jahrtausendwechsel fiel der Organisationsgrad in Ostdeutschland unter das westdeutsche Niveau.

Von Hamburg bis München haben die Arbeitnehmervertreter derzeit einen besonders schweren Stand. Ein Blick in die Details der ALLBUS-Ergebnisse für Westdeutschland zeigt, wo genau der Hund begraben liegt. Frauen und Teilzeitbeschäftigte scheinen im vergangenen Jahr besonders unzufrieden mit der Arbeit der Gewerkschaften gewesen zu sein – und das, obwohl sie ohnehin schon skeptischer sind als Männer und Vollzeitbeschäftigte generell:

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::
Im Jahr 2006 gab nur noch jede neunte Arbeitnehmerin einer Gewerkschaft ihr Mandat – zwei Jahre zuvor hatte dies immerhin noch auf jede siebte zugetroffen.
::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::

Noch extremer an Zuspruch eingebüßt haben die Arbeitnehmervertretungen unter den Teilzeitkräften – männlichen wieweiblichen: Lag deren Organisationsgrad im Jahr 2004 noch bei 15,5 Prozent, waren es im vergangenen Jahr nicht einmal mehr 9 Prozent. Auch wenn man etwas weiter, bis zum Jahr 2000, zurückschaut, findet sich kein Trost für die Gewerkschaften. Männer und Vollzeitbeschäftigte sind bereits seit längerem auf Gewerkschaftsflucht – inzwischen scheinen es ihnen die Frauen und Teilzeiter lediglich nachzutun.

Bislang haben die großen Branchengewerkschaften unter dem Dach des DGB – einige wie ver.di und die IG BCE decken sogar mehrere Wirtschaftszweige ab – kein Rezept gegen den Mitgliederschwund gefunden. Nun werden sie noch von einer anderen Seite in die Zange genommen: Ihnen erwächst Konkurrenz in berufsständischen Organisationen, die sich den Arbeitgebern zunehmend als Tarifpartner andienen.

Sogenannte Berufsgewerkschaften wie die Pilotenvereinigung Cockpit, die Ärztevertretung Marburger Bund und jüngst die Lokführergewerkschaft GDL führen für ihre Klientel separate Tarifverhandlungen. Gerade die Träger der zentralen Funktionen in einer Branche empfinden die bestehenden Tarifstrukturen oftmals als ungerecht und veraltet. Für die klassische Tarifpartnerschaft in Deutschland birgt das Aufkommen der
Spartengewerkschaften jedoch mehrere Gefahren:

  • Gestörte Friedenspflicht: Dass es so kommen kann, belegt der immer noch schwelende Tarifkonflikt bei der Bahn: Die GdL wollte einen eigenen Tarifvertrag für das Zugpersonal erstreiken, obwohl die Deutsche Bahn bereits einen Vertrag mit den großen Bahngewerkschaften Transnet und GDBA abgeschlossen hatte, der diese Berufsgruppe mit abdeckt.
  • Abnehmender Nutzen des Flächentarifs: Macht das Beispiel der Lokführer Schule und zetteln weitere herausgehobene Berufsgruppen für ihre Belange einen Arbeitskampf an, geht ein entscheidender Vorteil des Flächentarifs – eben die Friedenspflicht – verloren.
  • Aufschaukeln von Lohnforderungen: Zudem ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass sich die konkurrierenden Gewerkschaften in ihren Lohnforderungen gegenseitig puschen, um sich die Gunst ihrer Anhänger zu sichern.

Viele Unternehmen könnte all das dazu bewegen, sich aus der Tarifbindung zu verabschieden. Den Branchengewerkschaften drohen damit nicht nur weitere Mitgliederaustritte, sondern auch der Verlust von Verhandlungspartnern auf Arbeitgeberseite.

Dass es nicht ganz so weit kommen dürfte, hängt vor allem mit einem Umstand zusammen: Die Berufsgewerkschaften feiern ihre Erfolge vor allem auf dem Feld der ehemaligen Staatsmonopolisten wie der Bahn und im Flugverkehr sowie im Gesundheitswesen. Dort ist die Unzufriedenheit mit den bestehenden Lohnstrukturen besonders groß, und Gehaltserhöhungen fielen im Rahmen der Privatisierung eher knapp aus. In der Privatwirtschaft hingegen sind einzelne Berufsgruppen deutlich schwerer zu organisieren, weil sie wie etwa Lkw-Fahrer bei vielen Arbeitgebern tätig sind. Herausgehobene Berufsgruppen wie Ingenieure sind zudem in verschiedenen Branchen tätig und werden vielfach außertariflich bezahlt, sodass sich ihre Gehälter kaum vergleichen lassen.

ZUM AUTOR
Über Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln e.V.
Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln e.V.
Postfach 101942
50459 Köln

+49-221-49810
WEITERE ARTIKEL VON INSTITUT DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT (IW) KÖLN E.V.
Über Perspektive Mittelstand

Die Perspektive Mittelstand ist eine unabhängige, branchenübergreifende Business-Plattform zur Förderung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittelständischer Unternehmen und ihrer Mitarbeiter. Ziel der Initiative ist es, über hochwertige Informations-, Kommunikations- und Dienstangebote rund um den unternehmerischen und beruflichen Alltag die Wissensbildung, Kommunikation und Interaktion von und zwischen Existenzgründern, Unternehmern, Fach- und Führungskräften und sonstigen Erwerbstätigen zu unterstützen. Weitere Informationen zur Perspektive Mittelstand unter: www.perspektive-mittelstand.de