Fachartikel, 28.04.2011
Perspektive Mittelstand
Arbeitnehmerfreizügigkeit
Der große Run bleibt aus
Ab 1. Mai 2011 gilt auch in Deutschland die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Eine aktuelle IW-Studie hat untersucht, welche Folgen die potenzielle Zuwanderung aus den EU-Ländern für Deutschland hat.*)

Höhere Bezahlung und bessere Jobchancen als daheim: Wer auswandert, hat oft wirtschaftliche Gründe. Doch so verlockend, wie die Aussichten in einem anderen Land auch immer sein mögen: Die meisten Länder beschränken die Zuwanderung durch strenge Gesetze. In Deutschland etwa gelten sehr restriktive Regeln für Ausländer, die eine Arbeit aufnehmen wollen – allerdings nicht für EU-Bürger. Diese genießen Freizügigkeit, bislang jedoch mit Ausnahmen: Für die 2004 in die EU eingetretenen Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn hatten einige EU-Länder Übergangsfristen festgelegt.

In der Folge haben sich die Wanderungsströme verschoben: Deutschland und Österreich zum Beispiel waren bis 2004 für knapp drei Viertel der Polen, die ihre Heimat verließen, die beliebtesten Auswanderungsländer. Dann öffnete Großbritannien seinen Arbeitsmarkt – und die Insel avancierte zum wichtigsten Zuwandererziel:

Im Jahr 2007 wanderten 87.000 Personen aus den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern nach Großbritannien aus, aber nur 36.000 nach Deutschland.

Erst mit der Krise 2008 und 2009 ging die Zahl der Migranten, die den Ärmelkanal überquerten, wieder deutlich zurück. Geschadet hat der Zustrom aus dem Osten der britischen Wirtschaft nicht. Im Gegenteil: In den Boomjahren wuchs die Wirtschaft auch dank der Migranten, die Beschäftigtenzahlen stiegen, die Löhne sanken nicht wie befürchtet ins Bodenlose und auch der Anstieg der Arbeitslosigkeit hielt sich in Grenzen.

Nun wird Deutschland seinen Arbeitsmarkt für die EU-Neulinge von 2004 öffnen. Wie viele Zuwanderer aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erwarten sind, ist höchst umstritten. Eine Befragung von 27.000 EU-Bürgern Ende 2009 ergab, dass 23 Prozent der Osteuropäer beabsichtigen, in Zukunft im Ausland zu arbeiten. Dies entspricht einem Potenzial von über 12 Millionen Menschen im Erwerbsalter. Viele von ihnen wollen allerdings nicht sofort, sondern erst später auswandern. Die meisten planen auch keinen endgültigen Abschied von der Heimat, sondern nur einen vorübergehenden Aufenthalt im Ausland. Und Deutschland ist nur eines der möglichen Ziele.

Aus diesen Befragungsergebnissen lässt sich ein Szenario für Deutschland errechnen: Demzufolge dürften sich die meisten Mittel- und Osteuropäer – rund 800.000 – in diesem und im kommenden Jahr auf den Weg in die Bundesrepublik machen. Danach werden es relativ schnell weniger:

Insgesamt werden bis 2020 per Saldo 1,2 Millionen Zuwanderer Deutschland als zweite Heimat wählen – sofern tatsächlich alle Befragten ihre Migrationsabsichten in die Tat umsetzen.

Gut 1 Million Menschen klingt viel – doch es waren schon einmal mehr: So wanderten allein in den 1990er Jahren 3,3 Millionen Personen ein. Seither aber ist Deutschland als Zuwanderungsland unattraktiv geworden:

In den Jahren 2008 und 2009 verließen mehr Menschen die Bundesrepublik, als aus dem Ausland hinzukamen.


Für ein Land mit einer ohnehin schrumpfenden Bevölkerung kann dies problematisch sein, besonders, wenn es wieder aufwärts geht mit der Konjunktur. Denn gerade dann werden Arbeitskräfte gebraucht. Kurzfristig kann die Zuwanderung aus Osteuropa also helfen, die größten Personalengpässe zu lindern.

Langfristig wird die Öffnung der Grenzen für die Osteuropäer aber keine aktive Einwanderungspolitik ersetzen können, die Rücksicht nimmt auf die Demografie-Probleme Deutschlands und bürokratische Hürden für Fachkräfte abbaut – schließlich muss die Bundesrepublik mit guten Bedingungen aufwarten.

*) Vgl. Holger Schäfer: Migrations- und Arbeitsmarktwirkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, in: IW-Trends 2/2011

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